Verona Diaries - News


Zu unserem 100. Tagebucheintrag von Eva Saalfeld
möchten wir den Gewinnern unseres Jubiläumsgewinnspiels recht herzlich gratulieren.



Sonntag, 03.11.2013 [Woche 107]
by XShipper   
Die lebenden Toten    




Barbaras Wiederauferstehung hätte zeitlich nicht passender sein können – könnte man doch Teufelswerk dahinter vermuten. Wie sonst ist ihr leichenhaftes Wandeln am Fürstenhof zu erklären? Wehmütig, räudig und geschunden kraucht sie durch die Flure wie ein namenloser, unheiliger Schatten ihrer Selbst. Fehlt nur noch das Heulen des Windes und das Wehen der Gardinen und du wüsstest, wann sie sich dir von hinten nähert!

Was uns via Telefon zu Ohren getragen wurde, reichte uns. Diese Frau ist der Schrecken pur. Sie hätte sich dieser Tage nicht zu verkleiden brauchen. Ihr gebrochener Körper, ihr klagevolles Wimmern aus dem Fegefeuer und ihre nach jeder reinen, unschuldigen Seele greifenden, ausgemergelten Hände sind bereits das perfekte Kostüm. Robert war besorgt um seine Mutter und hätte sie am liebsten hier wieder bei uns gehabt, wo er sich um sie hätte kümmern können und sie von dieser Furie weit weg wäre.

Dieses Grauen konnten wir endlich angemessen „wegfeiern“ und „verwünschen“ – es war die Nacht der Toten, es war Halloween! Schon im Kindergarten hatten wir vorher kleine Kürbisse versucht auszuschnitzen, Fledermäuse aus Papier ausgeschnitten und abscheuliche Masken aus Pappmaschee gebastelt. In Italien flammt dieser Kult erst seit Kurzem auf, ist noch nicht so etabliert und die hiesige Kirche sieht darin ein heidnisches Hexenwerk, sodass jedes Gotteshaus rund um Uhr für die armen Seelen seine Tore offen hält und Zuflucht bietet.

Aber den Kleinen bereitete es schiere Freude und uns Erwachsenen einen Abend der Ablenkung von unseren menschlichen Sorgen und Nöten. Valentina wollte unbedingt als Mini-Fledermaus gehen und zum Glück fanden wir auch ein passendes Kostüm: Ein Mützchen mit spitzen Ohren und Knopfaugen, einen pechschwarzen Ganzkörperanzug mit weißen Bauch vorne, übergroße Schühchen in Krallenform und natürlich 2 lederne, weit abstehende Flügel. Sie sah wirklich drollig aus.

Zu unserer kleinen Halloween-Feier gesellten sich dann noch mein Bruder und Debbie hinzu. Wobei Jakob ja den Vogel abschoss bzw. den und sämtliche Kinder verjagte. Ich erkannte ihn fast nicht wieder und beinahe schlug ich die Tür wieder vor seiner Nase zu. Mit lumpiger Trägerhose und einer alten, zerklüfteten Jacke, die vor Schmutz und Matschflecken nur so triefte, sowie einem seiner typischen Holzfällerhemden, aus denen Heu an sämtlichen Stellen hervorquoll, war er ja noch fast zu erkennen, aber was er da auf dem Kopf hatte, oh man… ein von Mäusen angenagter gar zerfressener Strohhut und ein mit fasrigen Leinen zugeschnürter Kartoffelsack schmückten ihn perfekt. Unter aufgerissenen Löchern für Mund und Nase schimmerte lederartig, verwesend geschminkte Haut durch und entstellten ihn. Seine Hände waren dreckig und grabschend nach allem Fressbaren. Debbie hingegen kam als adrette Untote aus der Renaissance in die Gegenwart mit verfaulter, verzauster Steifperücke, aschfahl geschminkt und mit überlangen Fingernägeln an ihren untoten Händen. Unter dunklen Augenhöhlen schimmerten glühende Kontaktlinsen, die sie fast schon biestig erscheinen ließen. Ihr Korsettkleidchen war modrig und zerschlissen, zierte zudem in der Bauchmitte eine klaffende Wunde, die wahrlich ein MakeUp-Spezialist gemacht haben musste. Robert blieb seinem Element treu und verkleidete sich als schlachtender Koch. Unter seiner blutgetränkten Haube trug einer eine Perücke aus langen, grauen Haaren. Seine weißen Sachen waren an den Enden der Gliedmaßen abgerissen und unterschiedlich lang. Überall haftete Blut seiner jüngsten Opfer an ihm und noch die letzten Überreste von umher fliegenden Hautteilen und Knochenfragmenten waren auf seiner Kochschürze verteilt. Ein manischer Blick sowie Schlachtbeil rundeten sein Kostüm ab. Nun ja, und ich ging klassisch und in Italien vorwiegend verbreitet als Hexe, aber hier orientierte ich mich an einer Kinderbuchgeschichte. An Händen und im Gesicht war ich froschgrün geschminkt mit purpurnen Lippen und einer fetten Warze auf der Nase. Ich trug einen spitzen, großen Hut in schwarzer Farbe, dessen Fächer einen riesigen Durchmesser aufwies – also einen Regenschirm hätte ich nicht mehr benötigt. Mein Kleid war lang, auch schwarz und eng anliegend, um die Taille rum zugeschnitten. Dort sowie unten an der Schleppe zierten grüne Halloween-Muster und oben an den Schultern Puffärmeln. Ein breiter Kragen ging über in einen blassgrünen Mantel. Das Ganze wurde abgerundet mit einem alten Besen und einen gemalten Spinnennetz auf der Wange.

Unsere kleine Stadt war voll von Monstern, wandelnden Leichen, jagenden Vampiren, kichernden Hexen, umher schwirrenden Feen, kleinen Kobolden und allerhand Kürbissen in jeglicher Gestalt und Form. Diebisch gingen sie von Haus zu Haus, klingelten die Bewohner herbei und verlangten Süßes für ihre Töpfe, ausgehöhlten Schädeln oder einfachen Tüten. Wer nicht schnell genug parierte, wurde mit Fackeln, Krallen, Messern, lechzenden Zähnen oder Krallen bedroht. Manche Bürger drehten den Spieß um und fanden Spaß daran, die Kinder an den Haustüren zu erschrecken – nicht wenige rannten da schon mal wieder fort und suchten das Weite.

Als wir umherzogen und noch einige Freunde uns mit ihren Kindern… (wenn es denn Kinder waren) begleiteten, war es meist mein Bruder, der als Kinderschreck fungierte. Sobald er eine Scharr von ihnen in den Gassen ausmachte, nutzte er das spärliche, diffuse Licht und schlich sich an sie heran oder torkelte grölend auf sie zu. Sodenn wer floh, wurde sein Opfer und entkam nur mit dem Leben gegen eine Handvoll Süßigkeiten – manchmal tat es auch ein Lutscher, wenn das Kind besonders ängstlich weinte. Die meisten Eltern, die natürlich mit dabei waren, amüsierten sich dennoch. Uhhh, was sind wir alle fies.

Als wir unsere Runde vollendet hatten und Valentina auch dank der Strohpuppe einen vollen Kübel mit allerlei Gummibärchen, Lollis, Kaugummis, Glubschaugen, sauren Würmern und Schokolade hatte, kehrten wir im geweihten „12 Apostoli“ ein, um wieder Menschen zu werden. Robert hatte nur bedingt frei und musste als blutrünstiger Koch wieder an die Arbeit. Seine Belegschaft war aber auch verkleidet. Einige sahen tatsächlich so aus, als wären sie ihrem Boss, dem Schlächter, höchstpersönlich schon begegnet.

Das Restaurant selbst war fulminant geschmückt: Aus der großen Laterne über dem Eingang wurde ein riesengroßer, leuchtender Kürbis mit irren Fratzen. Spinnweben spannten sich um die Eingangstüre und es hingen kleine wie ekelige Spinnen von oben herab. Drinnen war es düster und schummrig. Glimmende Kerzen sowie noch mehr flackernde Kürbisse an jeder Ecke und auf den Tischen erhellten die Räumlichkeiten nur spärlich. Noch mehr Spinnweben, flatternde Fledermäuse, Gummi-Ungeziefer und Totenkopfschädel zierten die Tische. Im Hintergrund dudelte schrille, gespenstische Musik mit Orgelgesängen und vom Boden stiegen Nebelschwaden auf.

Wir aßen uns durch das komplette Menü, welches extra für diese schaurigen Tage erstellt wurde. Es gab als Vorspeise einen leichten Kapuzinerkressesalat mit Eiter, eh nein, mit Joghurtsauce natürlich. Er sah wahnsinnig toll aus wie ein kunterbunter Mischwald und passte auch ideal zur Herbstzeit mit seinen warmen, rot-orangenen Tönen. Die Blüten der Kapuzinerkresse waren zudem äußert delikat und die Sauce aus marinierten Orangen sowie Mandarinen war sehr erfischend. Heiß ging es stattdessen weiter mit einer toskanischen Hokkaido-Suppe, dessen Nuss-Aroma geradezu heraus stach und Hunger auf mehr machte. Dann konnten wir uns nicht entscheiden, was wir als nächstes Essen sollten, also bestellten wir einfach alles andere auch noch dazu. Neben kleinen Happen einer feurigscharfen Lasagne mit Kürbis gab es einen komplett essbaren, gebackenen Kürbis, aus dem wir uns alle wie aus einer Hexenschüssel bedienten, und Kürbnis-Gnocci auf Salbeisauce mit Kinderhackfleisch, eh nein, Geflügelragout. Für Nachtisch war kaum noch Platz, aber die Kellner hätten uns beinahe mit Haut und Haar gefressen, wenn wir von der großen Platte nicht noch eine Kleinigkeit genascht hätten – getreu dem Motto: ESS SÜSSES; SONST GIBT’S SAURES.

Alles in allem hatten wir eine tolle, gefräßige Zeit.

Deine