Mittwoch, 29.01.2014 [Woche 116]
by XShipper   
Kleine Unfälle    




Eigentlich bin ich viel zu müde und total k.o., um noch einen vernünftigen Eintrag verfassen zu können. Aber ich habe mich extra aufgerappelt, mit halb geschlossenen Augen im Nachttisch nach dir gekramt und bemühe mich gerade redlich, dass ich zumindest gerade schreibe. Zum Glück erhellt nur die kleine Leuchte auf der anderen Seite des Bettes das Schlafzimmer – ich glaube, viel mehr Licht würden meine Augen gar nicht vertragen und gar zu tränen anfangen.

Ich riskiere einen Seitenblick und kann am verspannten Rücken von Robert erkennen, dass es ihm ähnlich geht. Ausgelaugt, erschlagen, bekümmert, beklagenswert und eigentlich todmüde. Trotzdem sitzt er da, die Hände in seinen Haaren vergraben, wo ich mir denke, diese Aufgabe würde ich gerne übernehmen. Seine Arme abgestützt auf seinen Knien und das Kinn auf seiner Brust – er sagt kein Ton und ich frage mich, ob er in der Position eingeschlafen ist.

Bevor ich den schier unmöglichen Willen aufbrachte, dich aus der Schublade hervorzuholen, wäre ich auch beinahe der Traumwelt entwichen. Alle viere von mir gestreckt lag ich quer mit dem Rücken auf dem Bett und lauschte meinem stoßweise erschöpft klingenden Atem und war paralysiert von der Schwärze hinter meinen Lidern, als zöge das pure Nichts an meinem Sein wie der Wind eine flauschigen Feder einfach so davon treiben lassen kann. Ja, Federn, Federbetten…

Du fragst dich bestimmt, was uns so fertig gemacht hat. Tja, eigentlich nur ein voller Terminkalender, der uns buchstäblich von Pontius zu Pilatus hetzen und die reinste Achterbahn der Gefühle erleben ließ. Wir hatten kaum Zeit für uns, nur wenige Stunden Schlaf insgesamt und dazu noch trübes Wetter, welches einem aufs Gemüt schlug, sobald man nur die Vorhänge von den Fenstern beiseite schob und einen Blick hinaus riskierte.

Zuerst ging es auf den Hof meines Bruders, wo wir ihm bei seinen Umbau im Haus aushalfen. In dem alten Domizil, welches nach Debbies Plänen saniert und umgebaut wird, ist noch reichlich und vor allem jede Menge zu tun. Sie arbeiten sich von Zimmer zu Zimmer, bis sie irgendwann … wieder von vorne anfangen. In einem Eigenheim ist schließlich immer was zu tun und man muss hier und da für die nächsten Hundert Jahre noch die Schrauben festziehen, sägen, neu streichen, ausmisten und und und. Auf 3 Tage verteilt schufteten wir als Trupp. Wer von uns mit Blessuren davon kam, hatte sich eindeutig als Besitzer zweier linker Hände und Füße offenbart, und so war es wenig verwunderlich, dass wir alle nicht unverletzt blieben. Robert fiel ein Schrank auf seine Zehe, die nun eine beachtliche Blaufärbung haben, und weswegen er seitdem leicht humpelt. Sein Stolz verbietet es ihm, ein zerknirschtes Gesicht zu machen, aber an den kleinen Zuckungen im Gesicht, wenn sich seine Lippen für einen Bruchteil eines Augenblickes synchron mit dem zusammen gekniffenem Auge bewegen, weiß ich, dass ihm seither jeder Tritt schmerzt. Der Arzt im Krankenhaus bescheinigte ihm jedoch nur eine Prellung, nichts ward gebrochen. Dafür war ich um 3 Stiche reicher. Ein alter Spiegel, der durch einen neuen ersetzt werden soll, entglitt mir und riss mir eine schöne Wunde am Unterarm. Beim Anblick meines Blutes, welches sich rasch durch meinen Ärmel ausbreitete und dann auf den neu gefliesten Boden tropfte, erschrak mein Bruder. Sein Aufschrei war wiederum schuld daran, dass Robert den Schrank völlig vergaß, zu mir eilen wollte und das gute Stück ihn dabei an Ort und Stelle festnagelte. Das war am ersten Abend. Darauf folgend waren wir mit der neuen Fußbodenheißung beschäftigt, und obwohl es nur von Bauarbeitern wimmelte, versuchten wir zu helfen, wo es ging, damit der Feierabend früher kommen konnte. Doch Jakob verfing sich mit seiner linken Hand in dem Gestänge, als sie es verlegen wollten, und brach sich 2 seiner Finger sowie die am Handrücken. Im Krankenhaus trafen wir auf den gleichen Arzt, der dann meinen Bruder verarztete und gleich noch Roberts und meine Verletzungen checkte. An unserem letzten freien Abend, an dem wir aushelfen konnten, wollten wir es eigentlich ruhig angehen. Die Männer machten draußen an einem Lagerfeuer Pause, nachdem sie stundenlang Flüssigzement glatt gestrichen hatten (Jakob natürlich nur mit der anderen Hand und eben soweit es ihm möglich war), während Debbie und ich mit verschiedenen, schweren Farbeimern beschäftigt waren. Alleine schleppten wir sie dort hin, wo sie gebraucht wurden, und wollten ganz autonom und emanzipiert – selbst ist die Frau – mit dem Streichen anfangen. Leiter und Pinsel her, war gar nicht schwer. Ein panischer Aufruf gefolgt von lautem Tiergegrunze brachte uns dann plötzlich aus dem Gleichgewicht. Debbie sollte mich absichern, als ich 2 Meter über dem Boden den Stuck bemalte und praktisch über Kopf arbeiten musste. Meinem verletzten Arm tat das gar nicht gut, aber wer hätte diese künstlerische Aufgabe sonst machen sollen. Jedoch fuhr Debbie so erschrocken zusammen, dass sie die Leiter mit sich riss, der große Pott Farbe überschwappte und ihr Kopf regelrecht im Eimer verschwand, und ich anstatt Halt suchend mit dem Pinsel quer über die Wand fuhr, nur um halbwegs sicher zu landen. Draußen herrschte Aufruhr und ich musste erst einmal Debbie retten. Sie riefen nach uns, das konnte ich hören, aber was sollte ich machen!? Debbie schnappte panisch nach Luft und spukte die widerliche Masse tonnenweise aus ihrem Mund, ihre Augen hatte sie sich gar nicht erst getraut zu öffnen, und Haare, Kopf, Schultern, der gesamte Oberkörper war eine einzige purpurne Masse. Es waren Rosen an der Decke, daher die rote Farbe. Wie der Arzt auf dieses Bildnis eines Massakers reagierte, ist, glaube ich, gar nicht schwer vorstellbar. Jedoch brachten wir auch den nächsten und zum Glück für dieses Unterfangen vorerst letzten Patienten – Valentina. Sie hatte sie sich draußen klammheimlich in die Stallungen zu Emil und seinen Gefährten geschlichen, die aus noch unerfindlichen Gründen plötzlich aufscheuten und um sich stießen. Die Kleine war gefangen inmitten der wilden Hufpaare und schrie ebenfalls, was die Tiere aber nur noch mehr verrückt machte. Robert, Jakob und seine Gefolgsleute versuchten sie, da rauszuholen – riefen nach uns, riefen nach Valentina. Bis einer mit einem Gewehr ankam und alle deswegen noch lauter aufschrieen. Oh Gott, zum Glück, war ich nicht dabei und gleichzeitig fühle ich mich immer noch so elendig deswegen. Ein wilder Tritt streifte unser Kind an der Schulter und schleuderte sie an den Rand des Geheges, sodass die Männer sie rausholen konnten, bevor auch nur ein unachtsamer, voreiliger Schuss fiel. Dem Knirps ging es den Umständen entsprechend und ihr linker Oberkörper steht in farblicher Konkurrenz mit den Zehen ihres Papas. Sollten wir je wieder gefragt werden, ob wir beim Umbau helfen könnten, sind wir verschollen und höchst persönlich von der Mafia verschleppt worden!

Die Schrecken der letzten Tage wollten wir dann mithilfe eines Kurzbesuches bei Gianni und Tiziana mit schöneren Gegebenheiten wettmachen, als wir zum Babygucken eingeladen wurden. Wir waren so außer uns vor Freude, dass wir endlich den neuen Erdenbürger sehen durften, dass wir vor Aufregung es fast nicht mehr aushielten, das Baby zu betüddeln. Nur dachten wir aber, entweder war unsere innere Einstellung zu aufgedreht oder ein Bäuerchen lag dem Säugling quer. Vielleicht beides bzw. noch viel mehr, es war jedenfalls nicht zu beruhigen. Es schrie so kläglich, weinte und jammerte – egal, was Tiziana und ich auch probierten. Letztlich war es ein sehr anstrengender Besuch und erschöpft gingen wir mit hängenden Schultern heim. Einige schlaflose Nächte waren beiden Elternteilen bereits ins Gesicht geschrieben. Tiefhängende, dunkle Augenringe und blasse Haut zeugten davon, dass seit der Geburt wohl keine länger anhaltende Ruhe mehr geherrscht haben konnte. Vielleicht waren sie deswegen so lange bei den Verwandten geblieben, die ihnen versucht hatten zu helfen. Wenn ich die nächsten Tage Zeit habe, werde ich bei denen wieder auf der Matte stehen und meine Hilfe ebenfalls anbieten. Doch an jenem Tag konnten wir nicht allzu lange bleiben und wir entschuldigten uns mehrmals aus tiefsten Herzen und mit reichlich Mitgefühl für diese fast schon hilflose Lage, wo sie bereits so vieles probiert hatten und langsam auch als Menschen an ihre Grenzen stoßen. Ich hoffe, es geht allen dreien bald wieder besser.

Jedenfalls war dieses Erlebnis weniger erbauend, denn gerade so ein Babyglück sollte uns Mut für unser eigenes machen. Der nächste Kontrolltermin stand an, also packten wir unsere Sachen, die Journale durften natürlich nicht fehlen, und ab ging es zu weiteren Tests und für die eigene Scham ziemlich unwürdigen Gesprächen. Aber in unserer Situation waren es die einzigen Mittel, die uns zurzeit nur zur Verfügung standen und für die wir die Kosten begleichen konnten. Aber der mehrtätige Aufenthalt in der Klinik war erneut wenig fruchtbar – im zweideutigen Sinne. Wir wurden zwar in einem schmucken Zimmerchen, welches wir unser Privatgemach nannten und mit Valentina teilen konnten, untergebracht, aber die Pseudo-Privatsphäre war dafür weniger einladend und trotz aller Körperwärme, die wir einander nachts schenkten, recht kalt. Letztlich wurden wir mit negativen Befunden, aber dafür jeder Menge guter Ratschläge, Tipps und noch mehr Fläschchen wie Schächtelchen für den Medizinschrank bis zum nächsten Termin entlassen.

Deswegen sind wir nun im Schlafzimmer – ausgelaugt, körperlich wie mental verletzt und schier meilenweit voneinander entfernt. Ich hasse es und halte es nicht länger aus, dass er einfach nur so da sitzt. Natürlich bin ich nicht besser, lag ich doch bis vor ein paar Minuten noch leblos wie ein Bettvorleger rum… kaum mehr interessiert an der Welt um mich herum. Aber dieser stumme Rücken sticht derart hervor, dass ich ihn einfach berühren muss, um mich seiner grausig kühlen Existenz zu vergewissern.

Als meine Handfläche den Kontakt herstellt, durchfährt mich aber ein Schauer puren Lebens und Robert lugt unter seine Arme durch. Im schwachen Lichtstrahl, der ihn kaum erreicht, kann ich dennoch diese traurigen Augen erkennen, die mich müde anblicken. Mir lag bis eben noch so viel auf der Zunge, was ich ihm hätte sagen wollen, aber augenblicklich verschlägt es mir die Sprache und ich schaue ihn einfach nur an.

„Wenn wir den nächsten Schritt machen wollen – und ich glaube, da wird kein Weg daran vorbei führen, wenn wir DAS HIER wollen –,“ er dreht sich zu mir um, sucht mit seiner linken Hand die meine, die zuvor auf seinem Rücken ruhte, und deutet mir der anderen zwischen ihm und mir „dann werden wir mehr Geld brauchen!“

„Aber woher sollen wir es denn hernehmen?“ frage ich eindringlich und weiß mir keinen Rat mehr. Die Versicherung können wir uns nach dem Desaster vom letzten Jahr nicht mehr auszahlen lassen und sonst fällt mir im Moment nichts weiter ein. Oder? „Wir könnten deine Mutter doch darum bitten, wenn sie uns besuchen kommt.“

Robert schüttelt nur traurig mit dem Kopf und beharrt dabei auf seinem Standpunkt, dass er sich diese Blöße gegenüber seinen Elter nicht geben will. „Ich will einfach nicht, dass sie denkt, sie dürfe nur hier her, damit wir sie persönlich um Kohle anpumpen, weil das am Telefon ein absolutes No-Go ist. Nein!“

„Aber warten, bis wir die komplette Summe zusammen haben, können wir auch nicht, Robert. Ich will nicht warten und ich will auch nicht aufhören, selbst wenn es dir und mir dermaßen an die Substanz geht. Doch wenn wir jetzt eine Pause einlegen, dann werden wir in 5 Jahren bestimmt nicht mehr wieder damit anfangen und in 10 Jahren ist vermutlich eh alles zu spät! Robert?“ Eine ganze Weile herrscht betretendes Schweigen.

„Ich bin müde, ich bin viel zu müde, Eva. Bitte… können wir uns nicht einfach hinlegen –„ „– und uns wie zwei kleine Kätzchen ineinander kuscheln und einschlafen?“ wollte er fragen, doch ich beendete seinen Satz. Er grinst und schaut mich mit diesem Schlafzimmerblick an, dass ich gar nicht anders kann, als endlich das Bett freizugeben. Nach einigen schmerzhaften Lauten und jeder Menge „Aua“’s haben wir uns soweit arrangiert, dass wir trotz unserer Wehwehchen ein untrennbares Knäuel ergeben und wirklich nur noch den Schlaf herbei sehnen. Entschuldige, liebes Tagebuch, aber für dich ist hier jetzt nun wahrlich kein Platz mehr.

Deine